Blutmühle Bachmut

Minimalbewegungskrieg und Raketenterror: die 51. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 13.2.2023

Russland greift auf breiter Front, aber ohne große Erfolge die ukrainischen Verteidigungslinien im Osten des Landes an. Die ukrainischen Streitkräfte sind in der Defensive, bereiten jedoch mittelfristig eine Offensive vor, mit der weitere besetzte Gebiete befreit werden sollen. Während Kiew aktuell vor allem für die Lieferung neuer Waffensysteme wirbt, liegt der dringendste Bedarf bei Munition für die vorhandenen Geschütze. Aktuell kämpft die Ukraine mit den wachsenden Schäden an der Energieinfrastruktur, die durch immer neue Raketen- und Drohnenangriffe Russlands verursacht werden.

Russlands Truppen rennen weiter an verschiedenen Frontabschnitten gegen die ukrainischen Verteidigungslinien an. Im Nordosten der Ukraine haben sie am Ende der 2. Februarwoche das nördlich von Kupjans’k nahe der Staatsgrenze im Gebiet Charkiv am Westufer des Flusses Oskol gelegene Dorf Dvorične erobert. Von dort sind es 30 Kilometer bis Kupjans’k, von wo die Invasoren im September 2022 vertrieben worden waren. Hier befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz der ukrainischen Armee, der Ziel der russländischen Angriffe ist.

Nordwestlich von Kreminna im Gebiet Luhans’k finden weiter schwere Kämpfe statt. Dort versucht die russländische Armee nach Westen in Richtung Lyman vorzustoßen und das in der vergangenen Woche eingenommene Gebiet zum Zwecke einer größeren Truppenkonzentration zu erweitern. An diesem Frontabschnitt ist es der Ukraine erstmals gelungen, eines der neuen, mit reaktiver Panzerung ausgerüsteten Kampfunterstützungsfahrzeuge des Typs „Terminator“ durch Artilleriebeschuss zu zerstören.

Bei Bachmut sind Truppen der Gruppe Wagner im Norden und Süden der Stadt vorgedrungen. Diese ist nun von drei Seiten eingekesselt, von einst vier Versorgungswegen ist der Ukraine nur einer geblieben. Auch in den Ruinen von Mar’jinka und Vuhledar gehen die Kämpfe weiter. Das geschäftsführende Oberhaupt der „Volksrepublik Donezk“ (DNR) Denis Pušilin erklärte, die russländischen Truppen hätten sich im südöstlichen Teil von Vuhledar festgesetzt. Wahr ist hingegen, dass diese dort die größte Niederlage seit mindestens drei Monaten erlitten haben. Der Ukraine gelang es, am Stadtrand von Vuhledar eine Fahrzeugkolonne der 155. Marineinfanteriebrigade der Pazifikflotte (anderen Angaben zufolge: der 35. motorisierten Schützenbrigade der 41. Armee) anzugreifen. Mehr als 30 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, die in Waldstreifen zwischen verminten Feldern feststeckten, wurden zerstört, mindestens 100 Mann getötet, darunter der Kommandeur der 14. Gardebrigade der Sondereinsatztruppen, Oberst Sergej Poljakov. Die ukrainische Armee hatte sie u.a. von den Dächern der Hochhäuser von Vuhledar mit Panzerabwehrlenkwaffen unter Beschuss genommen. Große Verluste erlitten nach Angaben des Militärbloggers Igor’ Girkin auch zwei Infanteriekompanien der vormaligen „Volksmiliz der DNR“ bei einem erfolglosen Versuch, das westlich von Donec’k gelegene Avdijivka zu erstürmen.

Nicht zum ersten Mal hat Russlands Armee bei Vuhledar hohe Verluste erlitten. Anfang Dezember verloren Infanterieeinheiten der Pazifikflotte bei der Einnahme der nahe gelegenen Siedlung Pavlivka in großem Umfang Soldaten und Fahrzeuge. Eine Welle der Kritik an der Einsatzführung ging durch das russischsprachige Internet. Sogar der Gouverneur des Bezirks Primor’e im Fernen Osten Russlands äußerte sich öffentlich. Die Verluste bei Avdijivka reihen sich in ähnliche Ereignisse der vergangenen Monate ein, und doch ist nicht zu erkennen, dass die Kommandeure der russländischen Armee ihre Taktik ändern würden.

Der Finanzier der Wagner-Truppen, Evgenij Prigožin, gestand dann auch ein, dass die offiziellen russländischen Truppen und die an ihrer Seite kämpfenden Einheiten nur langsam vorrücken. Er erklärte öffentlich, dass es noch anderthalb Jahre dauere, bis das Gebiet Donec’k vollständig unter Kontrolle genommen werden könne und mit einem Erreichen des Dnipro nach momentanem Stand erst in drei Jahren zu rechnen sei. Heute stehen die Wagner-Truppen am westlichen Stadtrand von Soledar. Von dort sind es bis nach Slovjans’k im nordwestlichen Zipfel des Gebiets Donec’k rund 50 Kilometer. Prigožins Ankündigung läuft auf einen täglichen Geländegewinn von 90 Metern hinaus. Das entspricht ungefähr dem Vorrücken der Wagner-Truppen bei Bachmut und Soledar, liegt jedoch weit jenseits all dessen, was sämtliche anderen russländischen Einheiten an den befestigten Frontabschnitten im Donbass im vergangenen Kriegsjahr erreicht haben. Nimmt man das 120 Kilometer von Soledar entfernte, südwestlich von Slovjans’k an der Grenze zwischen dem Gebiet Donec’k und dem Gebiet Dnipropetrovs’k gelegene Myrna Dolyna, so wären es 220 Meter am Tag. Dies erscheint vollkommen unrealistisch, insbesondere da Prigožin angekündigt hat, es würden keine weiteren Strafgefangenen für die Wagner-Truppen rekrutiert. Er wird also bald keine Möglichkeit mehr haben, weitere entrechtete Menschen der Eroberung einiger Meter ukrainischen Bodens zu opfern.

Raketenbeschuss

Mehr „Erfolg“ als am Boden hatte Russland mit einem erneuten massiven Angriff auf ukrainische Energie- und Industrieanlagen aus der Luft. In vier Wellen schickte Moskau am 10. Februar 106 Raketen Richtung Ukraine, hinzu kamen 59 Luftschläge, darunter 28 mit Drohnen des Typs Shahed-136, sowie mehr als 90 Angriffe mit Raketenwerfern. Einige Raketen, die vom Schwarzen Meer aus auf Ziele im Westen der Ukraine abgefeuert wurden, flogen über rumänisches und moldauisches Territorium.

Die ukrainische Luftabwehr war diesem massiven Angriff nicht gewachsen, bei den Angriffen wurden nicht nur Umspannwerke zerstört, sondern auch die Maschinenräume von Kraftwerken getroffen. An mindestens vier Orten entstanden erhebliche Schäden, die wesentlich schwerer zu beheben sind als solche an den vergleichsweise leicht zu reparierenden Transformatoren. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Šmyhal‘ erklärte nach dem Angriff, durch den seit Oktober anhaltenden Beschuss seien mittlerweile zwei Dutzend Kraftwerksblöcke von Heizkraftwerken beschädigt. „Zählt man die durch die Besatzung verursachten Verluste hinzu, so entfallen bei der Stromerzeugung in Kernkraftwerken 44 Prozent, in Kohlekraftwerken 75 Prozent und in Blockkraftwerken 33 Prozent.[1]

Darüber hinaus hat Russland erstmals ukrainische Infrastruktur mit Unterwasserdrohnen angegriffen. Beschädigt wurde u.a. die Zatoka-Brücke, die westlich von Odessa über einen Mündungsarm des Dnistr führt und eine wichtige Eisenbahnverbindung von Rumänien in die Südukraine bildet.

Die ukrainischen Streitkräfte versuchen ihrerseits, russländische Infrastruktur zu zerstören, haben jedoch in den letzten Wochen wenig Erfolg, Angriffe in den Gebieten Kaluga und Brjansk wurden von der russländischen Luftabwehr abgefangen.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.


[1] Každaja vtoraja podstancija atakovana: Šmygal’ raskryl ser’eznye poteri ėnergetiki iz-za udarov RF, Unian.net, 10.2.2023.