Entlassung statt Entlastung

Russlands Krieg gegen die Ukraine: die 104. Kriegswoche

Nikolay Mitrokhin, 15.2.2024

Der Munitionsmangel bei der ukrainischen Armee ermöglicht es den russländischen Besatzungstruppen an mehreren Frontabschnitten langsam vorzurücken. Die weitgehend zerstörte Stadt Avdijivka ist nur noch schwer zu halten, auch Vuhledar ist in Gefahr. Strategische Bedeutung haben solche Geländeverluste nicht. Der Nachfolger des ukrainischen Oberkommandierenden Zalužnyj, der wegen der erfolglosen Gegenoffensive des Jahres 2023 entlassen wurde, steht gleichwohl vor einer schwierigen Aufgabe. Beide Kriegsparteien setzen ihre Luftangriffe auf Raffinerien und Treibstofflager im Hinterland des Gegners fort.

Nach Monaten des Anrennens steht die russländische Okkupationsarmee kurz vor der Einnahme von Avdijivka. Während die ukrainische Armee die Stadt gegen die Angriffe von Süden verteidigte und versuchte, die in ein einstiges Wohngebiet eingedrungenen Sturmtrupps des Gegners von dort zurückzudrängen, brachen russländische Einheiten zu Beginn der 104. Kriegswoche nahe dem Zentrum von Nordosten in die Stadt ein. In nur zwei Tagen nahmen sie mehrere Viertel ein und setzten sich dort fest. Den ukrainischen Truppen fehlt es an Artilleriemunition, um sie von dort wieder zu vertreiben. Im Laufe der Woche verloren sie sogar weitere Straßenzüge, so dass die Stadt an einer Stelle durch einen Vorstoß des Gegners auf schmalem Raum fast in zwei Hälften geteilt ist. Den ukrainischen Truppen im Südteil der Stadt droht eine Einkesselung. Die ukrainischen Medien zeigten die gesamte Woche über Bilder von den massiven Zerstörungen in der Stadt, was ein untrügliches Zeichen ist, dass ihre Aufgabe bevorsteht. In einigen ukrainischen Militärkanälen wird dazu bereits aufgerufen.

Tatsächlich könnten nicht nur die südlichen Viertel in einen Kessel gelangen, die gesamte Stadt und das westlich von ihr gelegene Gelände befinden sich in einer Tasche und die einzige Verbindungslinie in den rückwärtigen Raum führt durch einen von Russland mit intensivem Feuer belegten Korridor. Sollte ein rechtzeitiger Abzug der im Süden der Stadt kämpfenden Truppen nicht gelingen, droht der Ukraine ein empfindlicher Verlust von Kriegsgerät, darunter zahlreiche gepanzerte Wagen, und anderer zur Versorgung der Truppen eingesetzter Fahrzeuge. Auch das Leben der Soldaten, die über freies Feld in der Schusslinie der Besatzer fliehen müssten, wäre in großer Gefahr.

Auch an anderen Frontabschnitten greifen die russländischen Truppen weiter an und die ukrainische Armee zieht sich unter Kämpfen langsam zurück. Das Ziel der Besatzungsarmee ist offensichtlich: Während sie westlich von Bachmut den Druck aufrecht erhält und die ukrainische Armee aus Avdijivka herauspresst, hat sie vor allem die Einnahme von Vuhledar im Blick. Nach der Eroberung des südwestlich von Donec’k gelegenen Mar‘jinka drängen die russländischen Truppen weiter nach Südwesten vor, indem sie an drei Stellen zugleich angreifen. Von Marjinka aus attackieren sie die westlich der Kleinstadt gelegene Siedlung Heorhijivka, das südwestlich gelegene Pobjeda und weiter südlich Novomychajlivka. Sollte der Vorstoß sich fortsetzen, könnte die russländische Armee im April oder Mai das 30 Kilometer von Mar’jinka entfernte Vuhledar einnehmen. Diesen zentralen Punkt der ukrainischen Verteidigungslinie am Übergang zwischen den Frontabschnitten im Gebiet Zaporižžja und im Gebiet Donec’k haben die Okkupationstruppen seit der Ausweitung des Kriegs im Februar 2022 bereits mehrfach einzunehmen versucht. Will die Ukraine dies verhindern, muss sie neue Verteidigungsstellungen errichten und benötigt vor allem mehr Artilleriemunition. Doch selbst wenn es der russländischen Armee unter weiteren hohen Verlusten gelingt, die völlig zerstörte Stadt einzunehmen und die Front in diesem Abschnitt bis zum Sommer durch weitere kleine Gebietsgewinne zu begradigen, hat sie damit keinerlei strategischen Vorteil errungen.

Der Austausch der ukrainischen Militärführung

Nach langem Zögern hat der ukrainische Präsident am 8. Februar den Oberkommandierenden der Armee Valerij Zalužnyj entlassen und ihn durch den Oberkommandierenden des Heers Oleksandr Syrskyj ersetzt. Die Motive für die Entlassung liegen auf der Hand, Volodymyr Zelens’kyj und seine Berater haben sie erneut benannt: das Scheitern der Gegenoffensive im Jahr 2023, das neben anderen Gründen auch auf die Fehlentscheidung zurückzuführen ist, Truppen ohne Kampferfahrung mit den neugelieferten westlichen Waffen auszustatten; das Fehlen eines neuen Plans für das Jahr 2024; Unstimmigkeiten über den Umfang der Mobilmachung – Zalužnyj hatte auf einem Bedarf von 500 000 Mann beharrt, der Präsident hatte dem widersprochen und die Regierung wie das Parlament hatten beschlossen, dass für eine Mobilmachung solchen Umfangs die finanziellen Mittel fehlen. Hinzu kamen Probleme mit der Ausbildung neuer Rekruten und Probleme bei der Logistik.

Aus der langen Liste der Vorwürfe ist erkennbar, dass Zelens’kyj mit dem Heer äußerst unzufrieden ist. Entsprechend wurden nach der Entlassung Zalužnyjs weitere hohe Verantwortliche ausgetauscht, etwa der erste stellvertretende Oberkommandierende und Minister für die Angelegenheiten der Kriegsveteranen sowie Kommandeure von Truppengattungen und Stellvertreter des Leiters des Generalstabs, unter ihnen Generalleutnant Serhij Naev, der seit 2020 die gemeinsamen Verbände der ukrainischen Streitkräfte kommandiert hatte. Die Unzufriedenheit des Präsidenten speziell mit dem Heer zeigt sich auch daran, dass er weder bei der Marine noch bei den Luftstreitkräften und der Luftabwehr Entlassungen vornahm.

Neben dem Austausch von Führungspersonal hat Zelens’kyj auch die Gründung einer neuen Teilstreitkraft beschlossen: die Truppen der unbemannten Systeme. Die Ukraine dürfte der erste Staat der Welt sein, der eine solche Drohnen-Teilstreitkraft eingerichtet hat.

Luftschläge

Russland hat in der 104. Kriegswoche erneut versucht, mit einem massiven Luftschlag am 7. Februar das Stromnetz der Ukraine lahmzulegen. 64 Raketen und Drohnen steuerten in mehreren Wellen Ziele in Kiew, in Mykolajiv sowie in den Gebieten Charkiv und L’viv an. Die ukrainische Luftverteidigung hat nach eigenen Angaben 44 davon – 29 Raketen und 15 Drohnen – abgeschossen. Bei den meisten Raketen handelte es sich um solche der Ch-Reihe (Ch-101, Ch-555, Ch-55), lediglich drei waren vom Typ Kalibr, mit dessen Produktion Russland erkennbar Probleme hat. Die Anflugrouten wurden so gewählt, dass die Flugkörper zunächst weit über ukrainisches Territorium geführt wurden, bevor sie sich ihren Zielen näherten. Dies erklärt, warum die Abschussquote lediglich bei zwei Dritteln lag. Infolge der Angriffe fiel in Kiew, Char’kiv und Mykolajiv erstmals seit längerer Zeit großflächig der Strom aus. In Kiew verbrachte der Außenbeauftragte der EU Josep Borrell einen Vormittag im Luftschutzkeller, bevor er in der Verchovna Rada sprechen konnte. Am 10. Februar führte ein Angriff auf ein Öllager in Charkiv zu einer schrecklichen Tragödie. Auslaufender Treibstoff entzündete sich, bei dem Großbrand, der 15 Häuser ergriff, starb eine Staatsanwältin mit ihren drei kleinen Kindern in ihrer Wohnung, mehrere weitere Menschen kamen in den Flammen um. Am 11. Februar folgte ein weiterer massiver Luftangriff auf die Ukraine mit 45 Drohnen.

Neue Informationen über den Preis des Krieges für Russland erbrachte ein Hackerangriff auf den Server des iranischen Unternehmens IRGC Sahara Thunder. Den von „Prana Network“ veröffentlichten Angaben zufolge zahle Russland für eine Drohne vom Typ Shahed-136 mindestens 193 000 US-Dollar. Dies sei aber erst der Preis bei größeren Chargen. Zunächst habe Moskau 375 000 US-Dollar pro Drohne bezahlt, bei der Bestellung von 2000 Stück sei der Preis auf 290 000 gesenkt worden, bei 6000 auf die genannten 193 000. Für die Lizenzproduktion von 6000 Drohnen im Verlauf von zweieinhalb Jahren habe Moskau 1,75 Mrd. US-Dollar gezahlt, die in Form von Goldreserven übergeben worden seien.

Die Ukraine versucht, diese Angriffe zu unterbinden, in dem sie gegen das Kommunikationssystem vorgeht. Der Stab der ukrainischen Spezialkräfte vermeldete etwa am 6. Februar, es sei gelungen, eine Relaisstation für Drohnensignale auf einer der Ölfördertürme vor der Küste der Krim zu zerstören.

Daneben setzt die Ukraine ihrerseits die Angriffe auf Treibstofflager und Raffinerien in Russland fort. In der Nacht auf den 9. Februar schlug unter anderem eine Drohne in der 50 Kilometer südwestlich von Krasnodar gelegene Raffinerie in Il’skij ein, eine Produktionsanlage mit einer jährlichen Verarbeitungskapazität von 3,6 Millionen Tonnen Rohöl sei zerstört worden. Attacken auf eine Raffinerie im unweit von Il’skij gelegenen Afipskij sowie ein Öllager in Stal’noj Kon’ im Gebiet Orlov blieben ohne Erfolg. Die beiden Raffinerien im Bezirk Krasnodar waren bereits im Mai 2023 drei Mal Ziel ukrainischer Drohnenangriffe gewesen. Alleine seit dem 18. Januar 2024 hat die Ukraine acht unterschiedliche Ziele dieser Kategorie attackiert. Am 14. Februar folgte ein erfolgreicher Angriff auf eine Raffinerie im Gebiet Kursk.

Aus dem Russischen von Volker Weichsel, Berlin

Dieser Lagebericht stützt sich auf die vergleichende Auswertung Dutzender Quellen zu jedem der dargestellten Ereignisse. Einer der Ausgangspunkte sind die Meldungen der ukrainischen sowie der russländischen Nachrichtenagenturen UNIAN und RIA. Beide aggregieren die offiziellen (Generalstab, Verteidigungsministerium, etc.) und halboffiziellen Meldungen (kämpfende Einheiten beider Seiten, ukrainische Stadtverwaltungen, etc.) der beiden Kriegsparteien. Der Vergleich ergibt sowohl übereinstimmende als auch widersprüchliche Meldungen und Darstellungen.

Zur kontrastierenden Prüfung ukrainischer Meldungen werden auch die wichtigsten russländischen Telegram- und Livejournal-Kanäle herangezogen, in denen die Ereignisse dieses Kriegs dargestellt und kommentiert werden, darunter die des Kriegsberichterstatters der Komsomol’skaja Pravda Aleksandr Koc (https://t.me/sashakots) sowie des Novorossija-Bloggers „Colonel Cassad“ (Boris Rožin, https://colonelcassad.livejournal.com/) sowie des Beobachters Igor’ Girkin Strelkov (https://t.me/strelkovii).

Wichtige Quellen sind auch die Berichte, Reportagen und Analysen von Meduza und Novaja Gazeta Europe. Ebenfalls berücksichtigt werden die täglichen Analysen des Institute for the Study of War (www.understandingwar.org), das auf ähnliche Quellen zurückgreift.

Die Vielzahl der abzugleichenden Quellen wäre ohne Hilfe nicht zu bewältigen. Dem Autor arbeiten drei Beobachter des Kriegsgeschehens zu, die für Beratung in militärtechnischen Fragen, Faktencheck und Sichtung russisch- und ukrainischsprachiger Publikationen aus dem liberalen Spektrum zuständig sind und dem Autor Hinweise auf Primärquellen zusenden.

Die jahrelange wissenschaftliche Arbeit zu den ukrainischen Regionen sowie zahlreiche Reisen in das heutige Kriegsgebiet erlauben dem Autor, auf der Basis von Erfahrungen und Ortskenntnissen den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Meldungen in den sozialen Medien einzuschätzen.