Titelbild Osteuropa 5-6/2011

Aus Osteuropa 5-6/2011

Imitation oder Substanz
Polen in Europa und die Europäisierung Polens

Tomasz Zarycki

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Abstract in English

Abstract

Polens europäische Identität ist über jeden Zweifel erhaben. Doch Polens Stellung in der EU ist unklar. Der Europapolitik der liberalen Bürgerplattform und der konservativen Recht und Gerechtigkeit mangelt es an inhaltlicher Substanz. Die politische Klasse und die Gesellschaft mischen sich kaum aktiv in die Debatte über den Charakter der EU ein. Sie passen sich an externe Vorgaben an und imitieren Europäisierung. Dabei handelt es sich um eine symbolische Kompensation der realen wirtschaftlichen Schwäche sowie der politischen und kulturellen Abhängigkeit des Landes. Diese symbolischen Politik ist anachronistisch.

(Osteuropa 5-6/2011, S. 117–124)

Volltext

Was ist Polens Stellung in Europa? Erstaunlicherweise fällt die Antwort auf diese Frage heute nicht eindeutiger aus als vor 20 Jahren. Es hat den Anschein, als sei Polen fest in Europa verankert. Gleichzeitig wirkt Polen in der Europäischen Union unsicher und marginalisiert. Diese Bilder sind gegensätzlich, doch keines ist falsch. Sie zeigen nur unterschiedliche Dimensionen der Europäisierung des Landes.

Zunächst zum ersten Bild: Polens Präsenz in Europa ist über jeden Zweifel erhaben. Es erübrigt sich, die institutionelle Einbindung zu erwähnen. Das Land ist mit diesen Institutionen so verwachsen, dass sie nicht mehr zu spüren sind. Die Aufhebung der Kontrollen an den Grenzen zu den EU-Staaten, die Wahlen zum Europaparlament, das Arbeiten in Westeuropa, all das gilt als so natürlich, dass es der jungen Generation so vorkommt, als sei dieser Zustand bereits ewig. An der europäischen Identität der Polen dürfte auch kaum zu zweifeln sein, zumal sie viel älter als 20 Jahre ist. Ausschlaggebend für die Europäisierung oder die Verwestlichung Polens waren wohl die 1970er Jahre, als Polen zur Modernisierung des Landes im Westen Kredite aufnahm und Lizenzen für westliche Produkte erwarb. Der Strom der in den Westen reisenden Polen wuchs; unter ihnen waren sogar Touristen, Arbeitsmigranten oder Wissenschaftler, die gerne von Hochschulen eingeladen wurden. Die Bevölkerung keines anderen kommunistischen Landes – mit Ausnahme Jugoslawiens – erfreute sich derartiger Privilegien.

Die Machthaber legitimierten sich auf formaler politischer Ebene durch das Bündnis mit der Sowjetunion. Kulturell bemühten sie sich zunehmend darum, als erfolgreiche Modernisierer im westlichen Stil gesehen zu werden. Ein kleines, aber spektakuläres Beispiel ist der Ende der 1970er Jahre entstandene Film Życie na gorąco (Heißes Leben). Sein Protagonist ist ein Agent des polnischen Auslandsgeheimdienstes, der weltweit einer Organisation von NS-Verbrechern nachspürt. Diese propagandistische Fernsehserie wurde mit dem Einverständnis der Geheimdienste gedreht. Der Agent gilt als weltläufiger Europäer par excellence. Er bewegt sich so selbstsicher durch Europa, dass man als Zuschauer heute den Eindruck hat, als sei Polen schon damals Mitglied der EU gewesen. Mehr noch, er arbeitet bestens mit Geheimdienstlern aus Österreich, Westdeutschland und Frankreich zusammen. Obwohl eine der Folgen auf der Krim gedreht wurde – sie musste als Kulisse für ein erfundenes lateinamerikanisches Land herhalten –, wurde die Sowjetunion wie in den meisten Filmen der 1970er Jahre nicht einmal erwähnt.

Die 1980er Jahre waren für Polen eine Zeit der Wirtschaftskrise, der politischen Spannungen und des verlorenen Glaubens an die Möglichkeit einer Reform im Rahmen des bestehenden Systems. Das führte zu einer großen Auswanderung gebildeter Menschen in den Westen. Trotz politischer Repression und wirtschaftlicher Krise hielt die kulturelle Europäisierung an. Am Ende unterlag ihr auch die kommunistische Arbeiterpartei. Ihre Funktionäre gaben am Runden Tisch einen Teil ihrer Macht ab und erklärten sich mit der Übernahme europäischer politischer Werte einverstanden, wodurch sie das Land in jeglicher Hinsicht für den Westen öffneten.

Die weitere Europäisierung erfolgte spontan. Die Frustration über das politische System und die deprimierenden 1980er Jahre machten die Polen empfänglich für die Ideen, Werte und Institutionen aus dem Westen. Westeuropa wurde zu dem positiven Referenzpunkt für Reformen aller Art. Die Altlasten des Kommunismus und des sowjetischen Einflusses waren blitzartig beseitigt. Ihre Spuren verschwanden fast von heute auf morgen aus den Straßen, Buchhandlungen und Medien, gelegentlich sogar aus den Lebensläufen. Die Polen, für die sich die Welt geöffnet hatte, fanden sich in Europa problemlos zurecht.

Zu den Gründen zählte das tief verankerte Gefühl, ein Recht auf Europäizität zu besitzen. Schließlich hatten, – so viele Intellektuelle und allen voran Johannes Paul II. – die Polen Europa nie verlassen. Vielmehr sei es Europa gewesen, das Polen verlassen habe. Die Reisen in den Westen und die von den Massenmedien und der Massenkultur ausgeübte Faszination für den Westen bereitete die Polen auch praktisch auf die „Rückkehr nach Europa“ vor. Die Kommunisten von gestern, die zu Sozialdemokraten von heute wurden, fühlten sich in Europa nicht weniger heimisch als ihre Mitbürger. Vielfach schienen sie sogar noch „europäischer“ zu sein. Unter den Parteieliten hatten schon seit den 1970er Jahren die „Technokraten“ überwogen, Pragmatiker, die fasziniert auf den Westen als Quelle der Moderne blickten. Viele von ihnen hatten bereits vor dem Fall des Kommunismus die Gelegenheit gehabt, in den Westen zu reisen. Eine besondere Rolle für die Verwestlichung der kommunistischen Eliten spielten die USA, die seit den 1960er Jahren jungen Wissenschaftlern und Intellektuellen mit Stipendien Aufenthalte in Amerika ermöglichten. Nach dem Systemkollaps fehlte es weder unter der Parteielite noch in der Opposition an Fachleuten, die sich im Westen zu Hause fühlten.

Die Geschichte der polnischen „Rückkehr nach Europa“ lässt sich aus dieser Perspektive als eine glückliche, ohne größere Verwerfungen erzählen. Vom Beitritt Polens zur EU hieß es oft, man habe unverdientermaßen lange auf ihn warten müssen. Doch fehlte es nicht an Beitrittsgegnern, auch wenn sie stets in der Minderheit waren. Als Johannes Paul II. – für den konservativen Teil der Polen eine besonders wichtige Autorität – seine Unterstützung für einen EU-Beitritt erklärte, war besiegelt, wie das Referendum ausgehen würde.

Einige argumentieren, zu den wichtigsten Ursachen für Polens kohärent proeuropäische Politik gehörten die diffuse, aber weitverbreitete Angst vor Russland und der Wunsch, dem Osten zu entkommen. Nicht alle Polen sahen in Russland die Hauptbedrohung für die Sicherheit des Landes, doch die meisten unterstützten die Idee, die nationale Sicherheit dadurch zu erhöhen, sich vom russischen Einfluss in Politik und Wirtschaft unabhängig zu machen. Mehr Sicherheit versprach die Einbindung westlicher Organisationen wie die NATO und die Europäische Gemeinschaft. Dieser mehr oder weniger antirussische Faktor stimulierte den polnischen Enthusiasmus für Europa und verschaffte der EU-Integration eine breite Legitimität. Vor allem schwächte er auch die polnischen Vorbehalte gegen Deutschland. Kurzum: Polens Präsenz in Europa ruft bei seinen Bürgern keine größeren Meinungsverschiedenheiten mehr hervor; für die meisten ist sie selbstverständlich. Wenn es mal Streit gibt, so geht es nicht mehr um die Idee Europa an sich, sondern nur noch um die konkreten Bedingungen, unter denen Polen in den EU-Institutionen mitwirkt, mal um Polens Status in einzelnen Institutionen, mal um den Stil, in dem sich einzelne europäische Politiker über Polen äußern. Doch darüber, dass Polen ein fester Bestandteil der EU ist und die europäische Integration mitbestimmen soll, herrscht Konsens.

Allerdings gibt es in Polen bisher keine Diskussion darüber, welche Form die Europäische Union annehmen soll. Diese Debatten kreisen vielmehr darum, wie Polen in der EU behandelt wird. Diese Selbstzentriertheit könnte ein Ansatzpunkt sein, um gegen die bisher vertretene Position zu argumentieren. Die Spaltung der politischen Landschaft in Liberale unter Führung der Platforma Obywatelska (PO; Bürgerplattform) sowie Konservative mit Prawo i Sprawiedliwość (PiS; Recht und Gerechtigkeit) an der Spitze zeigt sich auch europapolitisch. Unter den Liberalen gibt es mehr Anhänger eines föderalen Europas, während unter den Konservativen jene überwiegen, die ein „Europa der Nationen“ wollen. Streit gibt es um die Frage, was die polnische Identität und was die europäische Identität ausmacht. Die Konservativen unternehmen ständig neue Anläufe zur Definition von Patriotismus als Antwort auf die vermeintliche Bedrohung der polnischen nationalen Identität. Westeuropa mit seinem Materialismus, der Säkularisierung und dem moralischen Relativismus gilt manchen als Hort dieser Bedrohung. Die Liberalen halten diese Ängste für einen Ausdruck von Irrationalität und fehlender Weltläufigkeit. Ihre Sorge gilt weniger der Figur des „wahrhaft patriotischen Polen“, der seine Identität in einem multikulturellen Europa bewahren will, als vielmehr dem Idealtyp des „wahrhaft europäischen Polen“, der sich in Europa so zu Hause fühlt wie jeder beliebige Westeuropäer. In diesem Denken ist das Beharren auf einer spezifisch polnischen Tradition ein Ballast, der die Anpassung an die Erfordernisse der Moderne erschwert.

Die extremen Flügel beider Lager nehmen sich gegenseitig als Bedrohung wahr. Die Liberalen befürchten, dass die Konservativen Polen von Europa entfernen. Im konservativen Beharren auf traditionellen, patriotischen Werten sehen die Liberalen eine Spaltung der Gesellschaft in bessere und schlechtere Polen sowie eine moralische Erpressung, welche die gesellschaftliche Modernisierung gefährdet. Die Konservativen wiederum befürchten, dass der unkritische Enthusiasmus der Liberalen für alles Westliche Polens Identität und nationale Interessen bedroht. Vom konservativen Standpunkt aus sind es die Liberalen, die Polen spalten, indem sie für sich beanspruchen, die „wahren Europäer“ zu sein, während die anderen diese Bezeichnung noch nicht verdienen und als schlechtere, da weniger moderne Polen erscheinen. Die Härte, mit der diese Auseinandersetzung ausgetragen wird, gibt Anlass zur Vermutung, dass sich die Polen ihrer Stellung in Europa unsicher sind. Die Liberalen scheinen darüber beunruhigt zu sein, dass ihre konservativen Mitbürger Polen und damit sie selbst kompromittieren könnten. Deshalb verlangen sie die „Europäisierung“ ihrer Landsleute, während sie sich selbst darin überbieten, Beweise für ihre eigene „europäische Identität“ vorzulegen. Das legt nahe, dass auch die Liberalen Angst davor haben, jemand könnte daran zweifeln. Die Konservativen betonen den Westeuropäern gegenüber immer wieder die besondere geistige und moralische Integrität der Polen, das Leiden für die Freiheit des Kontinents sowie die Verluste, die das Land im Krieg und im Widerstand gegen die Kommunisten erleiden musste. Ziel ist es, den Respekt des Westens zu erhalten, aber natürlich auch, dadurch Polens europäische Identität zu belegen.

Beide Haltungen zeugen davon, dass sich Polen nach wie vor am Rande des Geschehens wähnt. Westeuropa gilt als externe Kraft, an die man sich anpassen muss. Die aus dem Westen kommenden Ideen kann man akzeptieren, mit Verständnis übernehmen und versuchen, sie sich anzueignen. Aber man kann sie auch ablehnen oder ignorieren, indem man die eigenen Traditionen kultiviert. In den politischen und intellektuellen Debatten Polens gibt es jedoch nur wenige Versuche, sich in die europäischen Diskussionen einzuschalten und die aus dem Westen kommenden Ideen nicht als fertige Konzepte, sondern als Standpunkte zu sehen, über die man in einen Dialog eintreten muss. Hier ist Polen in Europa nur begrenzt präsent. Selbst wenn die Polen versuchen, mustergültige Europäer zu sein, ist dies meist eine mehr oder weniger passive Europäizität, oft gar nur deren Imitation. Natürlich fehlt es auf individueller Ebene nicht an polnischen Künstlern, Wissenschaftlern oder Journalisten im In- und Ausland, die sich sehr aktiv an den europäischen Debatten beteiligen und Elemente zu einer gemeinsamen europäischen Kultur beisteuern. Doch diese individuellen Handlungen reichen auf kollektiver Ebene nicht weit. Ursache und Folge der passiven, imitativen Haltung ist das geringe Wissen, das auf kollektiver Ebene über Europa und den Westen existiert. Die polnische Gesellschaft ist zu einem großen Teil nicht in der Lage zu erkennen, dass die Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, eine Folge europäischer oder globaler Prozesse sind. Natürlich ist das Bewusstsein vorhanden, dass die Wirtschaftskrise globale Ausmaße hat. Doch wenn es um Gegenmaßnahmen geht, werden die von den westlichen Akteuren eingenommenen Standpunkte in den öffentlichen Debatten in Polen kaum mit deren Interessen in Zusammenhang gebracht. Die Polen fühlen sich nicht befugt, ihre Stimme in transnationalen Meinungsverschiedenheiten zu erheben, selbst wenn sie mittelbar davon betroffen sind. Sie sehen sie als etwas Äußerliches, Unvermeidliches an.

Ein relevanter Aspekt für Polens Stellung in Europa ist seine wirtschaftliche Abhängigkeit. In einer Situation, in der sich vom Bankenwesen bis zu den Supermarktketten ein erheblicher Teil der Wirtschaftssektoren in den Händen des globalen Kapitals befindet, sind bestimmte psychosoziale Effekte wie fehlendes Selbstvertrauen oder die Wahrnehmung, dass der Westen die kulturellen Standards setzt, unvermeidlich. Es fehlt an polnischen Konzernen, die in der Lage wären, die Landesgrenzen zu überschreiten, um zu Symbolen der polnischen Moderne zu werden. Die Debatten über die Entwicklung des Landes beschränken sich zu oft auf das erfolgreiche Einwerben von EU-Mitteln oder von westlichen Direktinvestitionen. Polen erscheint als Bittsteller, dessen Innovationskraft und Geschicklichkeit in erster Linie daran erkennbar ist, ob er den Erfordernissen der Brüsseler Bürokratie gerecht wird. Diese objektiven wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind einer der Faktoren, weshalb Polen sich in Bezug auf Europa so oft auf der rein symbolischen Ebene bewegt.

Beide Lager der polnischen Politik verfolgen unterschiedliche Strategien, doch ihrem Wesen nach sind sie sich ähnlich: Man könnte sie als symbolische Kompensation der wirtschaftlichen und politischen Schwäche des Landes bezeichnen. Das liberale Lager verfolgt eine symbolische Europäisierungsstrategie und sucht im Westen nach Anerkennung dafür, dass Polen sich die europäische kulturelle Modernität aneignen kann. Die Strategie des konservativen Lagers besteht darin, die polnische Kultur der Einzigartigkeit und der Treue zu katholischen Idealen und Traditionen zu betonen. Die einen Polen wollen Anerkennung dafür, dass sie sich fast durch nichts mehr von den Westeuropäern unterscheiden. Sie kleiden sich wie diese, sind ähnlich zwanglos im Umgang, offen für andere Kulturen und mobil. Die anderen Polen wollen Anerkennung für die polnische Treue zum Christentum. In der Vergangenheit sei Polen antemurale christianitatis gewesen, das Bollwerk des Abendlands im Osten. Heute gebe Polen dem Westen die verlorenen Werte des Christentums zurück.

Diese beiden symbolischen Strategien sind eng verwoben und haben mehr gemeinsam als es auf den ersten Blick erscheint. Sie markieren den Mainstream der polnischen nationalen Identität. Auch das liberale Projekt der polnischen Identität stützt sich oft unreflektiert auf ein ganzes Spektrum traditioneller historischer Narrative, zu denen die martyriologische Geschichte des Landes ebenso gehört wie die Betonung der besonderen moralischen und geistigen Vorzüge seiner herausragendsten Vertreter. Das konservative Projekt zielt wie das liberale darauf, die polnische in die europäische Identität zu integrieren, auch wenn dies mitunter in polemischer Abgrenzung von Elementen westeuropäischer Identität geschieht. Beide Strategien haben offensichtlich etwas mit dem Selbstwertgefühl im europäischen Umfeld zu tun. Die ökonomischen und kulturellen Abhängigkeiten sind die Quellen der polnischen Europakomplexe. Dabei geht es weniger um das Wohlstandsniveau gemessen am Bruttosozialprodukt, sondern um die Fähigkeit – oder konkret: Polens Unfähigkeit –, in der globalen Arbeitsteilung eine höhere Position zu erlangen, ein innovatives Land zu werden, das in der Lage wäre, durch die von ihm entwickelten, unter eigenen Markennamen verkauften neuen Technologien oder durch die Erfindung neuer Trends und Moden zu imponieren. Nach wie vor liefert Polen eher billige Arbeitskraft und Lebensmittel als Hightech oder neue kulturelle Trends.

Selbstverständlich ist die Schwäche des polnischen Selbstwertgefühls auch in anderen Bereichen oder im historischen Kontext zu erkennen. Erinnert sei an die 1980er Jahre. Nach einem Jahrzehnt unter der Herrschaft General Jaruzelskis war Polen wirtschaftlich und psychisch erschöpft. Zwar gelang es kurz vor dem Ende des Jahrzehnts, mit der Wiederzulassung der Solidarność und ihrem Sieg bei den Wahlen im Juni 1989 den alten Enthusiasmus neu zu beleben. Doch die Überzeugung vom totalen Misserfolg der eigenen Wirtschaftsreformen führte dazu, dass die Öffnung nach Europa einerseits mit Begeisterung erfolgte, andererseits aber enorm gedankenlos geschah. Polen brachte sich kaum als Akteur in diesen Prozess ein. Europa sollte nach Polen kommen, die Rolle der verhassten Sowjetunion einnehmen und mit seinem kapitalistischen Zauberstab alle wirtschaftlichen und politischen Probleme des Landes lösen. Diese Erwartungen führten schnell zu großer Enttäuschung. Bereits 1993 tauschten die Wähler die Post-Solidarność-Politiker an der Regierung gegen Postkommunisten aus. An die Macht kamen auch Politiker, die offen populistisch waren und Polens Mitwirkung in der EU sehr kritisch sahen. Doch die Idee der europäischen Integration an sich nahm keinen großen Schaden. Die Misserfolge bei der Modernisierung und Entwicklung schrieb man eher der angeblich unvollständigen Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit zu oder der unzureichenden Übernahme europäischer Vorbilder, die oft mit marktradikalen Maßnahmen gleichgesetzt wurden. Doch der unvermittelte Eintritt Polens in die westliche Welt unter den Bedingungen einer totalen Wirtschaftskrise sowie eines minimalen Glaubens an die Fähigkeit, eine Modernisierungspolitik selbst umsetzen zu können, führte zu einer bis heute relativ passiven Haltung Polens zu und in Europa, zumindest auf geistiger Ebene.

Ein Aspekt der ungeklärten polnischen Europa-Identität besteht darin, dass auch Polens symbolischer Ort in Europa bis heute nicht klar ist. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der zwischen Polen und Europa, vor allem zwischen Polen und den führenden Staaten, „ausgehandelt“ wird und kulturelle, politische sowie wirtschaftliche Fragen berührt. Polens Platz ist auf keinem dieser Gebiete eindeutig definiert. Die Ansichten gehen weit auseinander. Für die einen ist die polnische Kultur eine von vielen europäischen Kulturen mittlerer Bedeutung; der Status des Polnischen sei wie der des Tschechischen oder Niederländischen. Andere meinen, die polnische Kultur sei eine der großen Kulturen Europas. Ihr momentan geringer Status sei der Vernachlässigung von Marketing geschuldet, aber auch dem Zusammentreffen ungünstiger historischer Ereignisse in den letzten Jahrzehnten oder zwei Jahrhunderten.

Wirtschaftlich ist Polens Platz ebenfalls uneindeutig. Einerseits ist es ein für europäische Verhältnisse wenig wohlhabendes Land, abhängig von Auslandskapital, geprägt von kaum innovativen Wirtschaftszweigen, die keine imponierende Wertschöpfung erzielen. Andererseits ist die polnische Volkswirtschaft nach europäischen Maßstäben relativ groß, sie hat sich in den letzten Jahren durch eine große Stabilität ausgezeichnet und ihre Modernisierung sowie ihre technologische Innovationskraft seien, so die Optimisten, nur eine Frage der Zeit.

In guter Erinnerung sind noch die Auseinandersetzungen um Polens politischen Rang in Europa, als es um die Stimmengewichtung im Rat der Europäischen Union ging. Dahinter verbarg sich die Frage, ob Polen ein Platz unter den wichtigsten Ländern der EU zusteht oder den Status eines mittleren Staates akzeptiert.

Solange der symbolische Ort Polens in Europa ungeklärt ist, solange hat dies innenpolitische Auswirkungen. Seit langem wird im Lande debattiert, wie viel Polen von seinen europäischen Partnern verlangen müsse und für wie wichtig sich Polen in Europa nehmen soll. In Kultur und Wissenschaft ist ein Streit im Gange, ob Polen seinen begrenzten Status anerkennen und seine Anstrengungen darauf verwenden soll, Teil der europäischen Netzwerke in Kultur und Wissenschaft zu werden. Das bedeutet, die institutionelle und kulturelle Machthierarchie, etwa die Dominanz der englischen Sprache, anzuerkennen. Andere dagegen plädieren für mehr Autonomie in Kultur und Wissenschaft sowie dafür, sich an Frankreich zu orientieren, das keinesfalls auf das Französische als wichtigstes Medium seiner Kultur verzichtet und die „französische Zivilisation“ in der Welt propagiert.

Auf wirtschaftlichem Gebiet verläuft die Trennlinie analog. Das eine Lager plädiert dafür, die relativ periphere Stellung der polnischen Wirtschaft in der globalen Arbeitsteilung zu akzeptieren. Das andere Lager ist für einen radikalen Kurswechsel. Mit einer staatlichen Wirtschafts- und Industriepolitik sollten polnische Unternehmen unterstützt werden, um sie für die Expansion auf internationale Märkte wettbewerbsfähig zu machen. Und was die Politik betrifft, meinen die einen, Polen sei ein Land mit höchst begrenztem Potential, das deshalb seine politischen Ambitionen an seine beschränkten Ressourcen anpassen müsse. Am wichtigsten sei, die eigene Politik auf die Prioritäten der führenden Länder in der EU auszurichten und sich als konstruktiver und rationaler Partner zu empfehlen. Andere halten die Rolle als Juniorpartner für ein Land von Polens Größe für inadäquat und machen sich dafür stark, die eigenen Interessen nachdrücklicher zu verfolgen, selbst wenn es dadurch mal zu Verstimmungen kommen könnte.

Ein Faktor, der diese konfrontativere Haltung Polens in Europa begünstigt, ist das historische Gedächtnis, wie es sich in den letzten zweihundert Jahren entwickelt hat und durch Schulen und Massenmedien formalisiert wird. Demnach war Polen mal ein Land von großer Bedeutung und verfügt über das historische Erbe einer regionalen Führungsmacht. Daraus ergibt sich die Verpflichtung, auch heute in der internationalen Politik eine wichtigere Rolle zu spielen. Insbesondere aus der Sicht konservativer Beobachter befindet sich Polen in einem Zustand skandalöser Schwäche, die nicht nur das Ergebnis objektiver Hindernisse sei, sondern des fehlenden Willens zur Macht in Europa.

Wie dem auch sei, in einem herrscht Konsens: Die kommunistische Zeit gilt als Periode, in der sich das Land in einer Lähmung befand. Der Zusammenbruch der Sowjetunion gestattete Polen die „Rückkehr nach Europa“ – wenn auch zunächst aus einer ganz schwachen, subalternen Position. Das ließ sich mit den Deformationen erklären, die der Kommunismus verursacht hatte. Zwei Jahrzehnte später hat der Kommunismus als Erklärungsansatz ausgespielt. Immer stärker rückt die Frage in den Mittelpunkt, wo nach dem Ende der Transformation Polens Platz in der EU sei. In dem Maße, in dem der Kommunismus zu einer historisch kurzen Phase des vorübergehenden Stillstands zusammenschrumpft, stellt sich immer stärker die Frage nach dem historischen Bezugspunkt für Polens Ort in Europa. Wohin soll die „Rückkehr Polens nach Europa“ eigentlich führen? Soll sie an die Glanzzeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik erinnern, die eine Zeit lang der größte Staat des Kontinents war? Oder an die Teilungszeit, als Polen von der Weltkarte verschwunden war? Oder an die Zwischenkriegszeit, auch wenn Polens damalige Stellung in Europa aus heutiger Sicht höchst umstritten ist.

Die Antwort auf die Frage nach Polens Position in Europa wird davon abhängen, welchen historischen Bezugspunkt man wählt. Es kann eine extrem pessimistische, aber auch eine extrem optimistische Antwort sein. Welcher Punkt in der Geschichte sich als Maßstab für ein Urteil über die polnische Lage eignet, ist umstritten. An der Tatsache, dass die Antwort auf die Frage, wie Polen sich heute in Europa fühlen soll, unklar ist, dürfte sich in absehbarer Zeit kaum etwas ändern. Es dürfte auch noch etwas dauern, bis sich die Kunde vom Ende der postkommunistischen Zeit durchgesetzt haben wird. Aber das Erbe des Kommunismus kann keine Berechtigung mehr dafür sein, einen bestimmten Platz Polens in Europa zu reklamieren.

 

Tomasz Zarycki (1970), Dr. phil., Soziologe, Assistenzprofessor und stellvertretender Leiter des Instituts für Sozialwissenschaften an der Warschauer Universität

Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, Darmstadt

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