Titelbild Osteuropa 5-6/2023

Aus Osteuropa 5-6/2023

Götterdämmerung

Editorial

(Osteuropa 5-6/2023, S. 3–4)

Volltext

Kurz nach dem 24. Februar 2022 veröffentlichte der Bonner Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder auf der Website von Osteuropa drei Szenarien, wie Russlands Krieg gegen die Ukraine enden kann: durch einen Blitzsieg, durch Auszehrung beider Seiten oder durch den Zerfall des Regimes, das den Krieg begonnen hat. Für die letzte Variante sprach nicht viel. Das Putin-Regime hatte zuvor alle potentiellen Kritiker, die Proteste gegen das Regime und Russlands Krieg hätten organisieren können, beseitigt oder mundtot gemacht: Oppositionelle wie Aleksej Naval’nyj wurden ins Lager gesteckt, seine Organisation verboten, Menschenrechtsorganisationen wie Memorial aufgelöst, die letzten freien Medien wie Echo Moskvy und die Novaja gazeta geschlossen und ins Exil gedrängt.

In der neueren Geschichte Russlands hat kaum ein Herrscher so lange an der Spitze des Staates gestanden wie Vladimir Putin. Nur Stalin war länger an der Macht. In den 26 Jahren seiner Herrschaft von 1927 bis 1953 etablierte er den „Stalinismus“. Kennzeichen dieses sowjetischen Totalitarismus waren die Massenmobilisierung der Gesellschaft, Führerkult und exzessiver Staatsterror. Putins Herrschaft dauert mittlerweile schon 23 Jahre und wird womöglich erst mit seinem Tod enden. Die Verfassungsänderung von 2020 hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass er bis 2036 im Amt bleiben kann. Kennzeichen des „Putinismus“ sind die Demobilisierung der Gesellschaft, personalisierte zentralistische Herrschaft und Repression.

Unter Putin wurde aus einer Präsidialdemokratie zunächst eine Autokratie und seit Februar 2022 eine Kriegsdiktatur. Wie konnte es soweit kommen? An Putins Persönlichkeit liegt es kaum. Über ein genuines Charisma verfügt er nicht. Die Polittechnologen und Propagandaapparate haben ihm das Image des „Führers der Nation“ verpasst. Für den Soziologen Lev Gudkov, dessen umfangreiche Studie wir im vorliegenden Heft publizieren, kommt in Putins Herrschaft das Kollektivbewusstsein der Bevölkerung zum Ausdruck. Gudkov sieht die Ursache für die Restauration der Diktatur in dem dynamischen Wechselspiel zwischen der kollektiven Mentalität einer amorphen Gesellschaft und der institutionellen Kontinuität der Unterdrückungsapparate, welche die Auflösung der Sowjetunion überstanden haben. Die Unfähigkeit zu gesellschaftlicher Selbstorganisation und die Sehnsucht nach einem starken Führer trafen auf Mechanismen der bürokratischen Selbstreproduktion.

Nach dem 24. Februar 2022 wurden die vereinzelten Proteste gegen den Krieg sofort unterdrückt. Hunderttausende Männer, die nicht bereit waren, als Soldaten in der Ukraine Schuld auf sich zu laden, protestierten auf ihre Art: Sie verließen das Land. Nach der sogenannten „Teilmobilisierung“ vom September 2022 floh eine zweite Welle von Männern ins Ausland. Auch ihre Zahl ist sechsstellig. Weitere Hunderttausende gut ausgebildeter Menschen, Junge und Alte, Computerexperten und Intellektuelle, die für sich und ihre Kinder keine Zukunft mehr im Putinschen Russland sehen, sind ins Exil gegangen. Das Regime stoppt diese Emigration nicht. Es agiert nach der Logik, je weniger kritische Geister im Land, desto stabiler die eigene Herrschaft.

Doch plötzlich bröckelte diese Fassade der Stabilität: Am 24. Juni 2023 konnte die Welt live erleben, wie zwei Kolonnen schwerbewaffneter Truppen aus dem ukrainischen Kriegsgebiet nach Russland fuhren. Es handelte sich um die Kämpfer des angeblich privaten Militärunternehmens „Wagner“. Tatsächlich stehen die Wagner-Truppen seit ihrer Gründung mit dem Militärgeheimdienst GRU in enger Verbindung und werden aus dem Staatsbudget finanziert. Eine Kolonne der Wagner-Kämpfer unter ihrem Chef Evgenij Prigožin fuhr nach Rostov und nahm dort ohne Widerstand den Stab des Südlichen Militärbezirks ein. Prigožin zeigte sich mit dem stellvertretenden GRU-Chef Vladimir Alekseev und dem stellvertretenden Verteidigungsminister Junus-bek Evkurov. Zu diesem Zeitpunkt hatte Putin Prigožin und seine Truppen bereits in einer Fernsehansprache als „Verräter“ bezeichnet und angekündigt, sie zur Verantwortung zu ziehen. Prigožins zweite Kolonne fuhr Richtung Moskau. Als sich ihr eine Aufklärungsmaschine und Kampfhubschrauber der Armee näherten, wurden sie von den Wagner-Truppen abgeschossen. Damit war die Schwelle zu einem Krieg der Paramilitärs mit den Militärs de facto überschritten. Doch die Eskalation in einen offenen Bürgerkrieg konnte gerade noch abgewendet werden.

Prigožins Meuterei war die Kulmination der Konflikte, die sich aus dem für Moskau miserablen Kriegsverlauf speisen. Diese Konflikte zwischen Armee, Geheimdiensten und Paramilitärs hatten sich seit Monaten aufgeschaukelt. Als die Wagner-Truppe ihre Autonomie auf dem Schlachtfeld zu verlieren drohte und der Armeeführung unterstellt werden sollte, brachen sie sich gewaltsam Bahn. Wer Prigožin wie dazu brachte, den Marsch abzubrechen, ist im Detail unklar. Putins Präsidialadministration und die Geheimdienste spielten die entscheidende Rolle – nicht der belarussische Diktator Lukašenka, der auf Putins neoimperialem Schachbrett nicht mehr als ein Bauer ist. Die Meuterer erhielten offensichtlich das Versprechen auf Straffreiheit. Anders wäre nicht zu erklären, dass Putin sich drei Tage nach dem Aufstand gezwungen sah, die Wagner-Kommandeure im Kreml zu empfangen.

Drei Schlüsse lassen sich aus dieser Causa ziehen:

Stellt man die drei Szenarien vom Kriegsausgang auf den Prüfstand, so war das „Szenario Blitzsieg“ kurz nach dem Überfall bereits überholt, das „Szenario Auszehrung“ ist realistisch und das vermeintlich irreale „Szenario Regimezerfall“ hat an Plausibilität gewonnen. Was hinter den Kulissen des Putin-Regimes passiert, wissen wir nicht. Doch in den Korridoren der Macht dürfte die Sorge verbreitet sein, dass Wagners Aufstand das Vorspiel zur Götterdämmerung gewesen sein könnte. Putins autokratische Herrschaft trägt den Keim ihres Untergangs in sich.

 

Berlin, im August 2023                                       Manfred Sapper, Volker Weichsel