Titelbild Osteuropa 1-3/2024

Aus Osteuropa 1-3/2024

„Die offene Wunde Tschetschenien“
Gespräch mit Sergej Lebedev

Lana Estemirova

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Abstract in English

Abstract

Die Tochter der im Juli 2009 ermordeten tschetschenischen Menschenrechtlerin Natal’ja Estemirova blickt zurück auf Russlands Kriege gegen Tschetschenien. Sie erklärt die psychischen Mechanismen, die dazu führen, dass Russlands Gesellschaft die Verantwortung für die Massaker in Tschetschenien weitgehend verdrängt, und schlägt einen Bogen zum Krieg gegen die Ukraine. Mit dem despotischen und kriminellen Regime Ramzan Kadyrovs geht sie hart ins Gericht. Estemirova träumt davon, dass nach dem Ende des Putin-Regimes ein demokratisches Russland seine Verantwortung für die Verbrechen im Kaukasus anerkennt, die Kriegsverbrecher bestraft und den Mord an ihrer Mutter aufklärt.

(Osteuropa 1-3/2024, S. 201–212)

Volltext

Osteuropa: Frau Estemirova, Sie sind 1994 geboren. Im Dezember desselben Jahres befahl Präsident Boris El’cin den Einmarsch russländischer Truppen in Tschetschenien. Erinnern Sie sich an einen bestimmten Moment, an dem Ihnen als Heranwachsende klar wurde, dass Sie im Krieg leben, sein Ausmaß und seine Bedeutung verstehen?

Lana Estemirova: Das ganze Ausmaß des Schreckens wurde mir erst bewusst, als ich Tschetschenien verlassen hatte. Als ich begann, die Geschehnisse in Tschetschenien durch ein eher akademisches Prisma zu betrachten. Ich las Chroniken der Gewalt, Texte von Memorial, wissenschaftliche Analysen, Augenzeugenberichte. Ich sprach mit Gleichaltrigen, fragte Freunde meiner Mutter. Ich bin in Tschetschenien aufgewachsen, im Krieg, aber um das ganze Bild zu sehen, muss man manchmal einen Schritt zurücktreten. Viele meiner Landsleute in Tschetschenien haben eine andere Sichtweise. Sie müssen sich darauf konzentrieren, zu überleben, dürfen nicht in die Maschinerie der Gewalt geraten. Ich habe das Privileg, mir das Ausmaß des Krieges und seiner Folgen zu vergegenwärtigen. Wir haben auch die Verantwortung, darüber zu sprechen und zu schreiben.

Osteuropa: In Russland ist die Rede vom „Tschetschenienkrieg“ oder „Krieg in Tschetschenien“, vom „Krieg in Afghanistan“ oder vom „afghanischen Krieg“. Diese Bezeichnungen schließen Russland als Kriegspartei, als Aggressor aus. Heute hören wir: Krieg in der Ukraine, nicht gegen die Ukraine. Die „Militärische Spezialoperation“, SVO, steht semantisch in der Reihe der „Operation zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung“ und der „Antiterroristischen Operation“, KTO, wie Russlands Kriege gegen Tschetschenien offiziell hießen. Wie sollten wir sie nennen? Sind das imperiale Kriege? Koloniale Kriege?

Estemirova: Das ist eine Orwellsche Begriffsverwirrung. Wenn schwarz weiß ist, ist weiß schwarz. Diese Formulierungen geben den Leuten die Möglichkeit, sich von der Verantwortung freizusprechen. Putins Regime verschleiert brennende Fragen, um die Bevölkerung nicht zu verschrecken. Putin und seine Umgebung scheinen zu wissen, dass die Unterstützung der Menschen für das Regime trotz aller Propaganda jederzeit zusammenbrechen kann.

Es liegt nahe, die Kriege gegen Tschetschenien als imperiale oder koloniale Kriege zu bezeichnen. Aber ich ziehe es vor, von einem „Strafkrieg“ oder „Bestrafungskrieg“ zu sprechen. Der Erste Tschetschenienkrieg sollte eine Warnung an andere sein: Wagt nicht, auch nur an Unabhängigkeit zu denken!

Es sollte „ein kleiner siegreicher Krieg“ für El’cins bröckelndes Regime werden. Dieser sollte sehr schnell enden, mit einem absoluten Sieg für Russland. Aber er endete mit einer Niederlage, einer Demütigung. Deshalb wandte Putin dann mit dem zweiten Krieg gegen Tschetschenien die Taktik der totalen Unterdrückung und Vernichtung an. Das war die Rache an Tschetschenien.

Osteuropa: Nach der Invasion in die Ukraine im Februar 2022 hörte man selbst von liberal gesinnten Leuten in Russland: „Wir verstehen nicht, wie so ein Horror möglich ist.“ Es war, als kämen Buča und Irpin völlig überraschend. Aber wir wussten doch von Samaški und Novye Aldy.[1] Warum erinnert sich niemand daran? Warum müssen die Menschen die Gewalt des russländischen Staates und seiner Institutionen immer wieder neu entdecken?

Estemirova: Wenn wir vergleichen, wie die Kriege gegen Tschetschenien und gegen die Ukraine wahrgenommen werden, dann empfinden die Russen mehr Mitgefühl für die Ukrainer: „Die sind wie wir, sehen ähnlich aus, sprechen eine ähnliche Sprache!“ Für liberale Russen ist es leicht, sich mit den Ukrainern zu solidarisieren und gegen Putin zu sein. Und sie verstehen nicht, warum Ukrainer in Zeiten des Krieges nicht mit ihnen sprechen wollen. Über Tschetschenien denken liberale Russen, die gegen Putin sind, kaum anders als der Durchschnittszuschauer des Ersten Kanals.

Wie ist das zu erklären? Tschetschenien wurde als Feind wahrgenommen. Da gibt es Terroristen, die U-Bahnen in die Luft jagen und Schulen besetzen … Die Angst sitzt bei vielen Menschen tief. Die meisten wollen nicht genauer nachfragen: Wer sind die Tschetschenen, was geschieht in Tschetschenien? Warum gab es Terroranschläge? Leichter war es, das Thema zu verdrängen. Der Krieg gegen die Ukraine berührt dagegen jeden. Und wen interessierten schon die Massaker von Samaški und Novye Aldy? Kaum jemanden.

Osteuropa: Die gebildete Öffentlichkeit wusste Bescheid. Sie las die Novaja Gazeta. Aber selbst für diese Leute ist die Grausamkeit im Ukrainekrieg überraschend: „Oh, wie kann das sein, dass russländische Soldaten so sind?“ Weder Erfahrungen noch Verantwortung werden weitergegeben.

Estemirova: Im Ersten Tschetschenienkrieg gab es in Russland viel Mitleid mit den eigenen Soldaten, den „russischen Jungs“ von 18, 19 Jahren, die zum Dienst gezwungen wurden. Ihre Mütter und Großmütter suchten später überall nach ihnen, tot oder lebendig … Man fühlte mit ihnen, die in einen sinnlosen Krieg geworfen worden waren, man hatte mehr Empathie mit ihnen als mit den unglücklichen tschetschenischen Kindern, die in Kellern bombardiert wurden, mit den Flüchtlingen …

Nach den Terroranschlägen war es sehr einfach, nach Tschetschenien zu schauen und nur das Schlimmste zu sehen. Niemand ging hin und sah, wie die tschetschenische Bevölkerung litt, ohne Strom, in absoluter Armut. Niemand sah die Mütter, deren Söhne entführt wurden. Und viele sagten sich: Na ja, wenn dieser Mann ins Gefängnis geworfen und gefoltert wird, dann wird er wohl wirklich ein Terrorist sein.

In diesem Konflikt gibt es mitunter kein Schwarz und kein Weiß. Alles ist ein bisschen grau, vor allem, wenn wir über Terrorismus sprechen. Wenn man gegen das kannibalistische Regime unter Ramzan Kadyrov ist, muss man zuerst auf die Menschen schauen, die unter ihm leiden, auf die Frauen, die Väter, die Kinder. Wie das die Menschenrechtler von Memorial getan haben, Leute wie Svetlana Gannuškina von Graždanskoe sodejstvija, Anna Politkovskaja oder Boris Nemcov.

Osteuropa: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Schule im neuen Russland weiter sowjetisch, die Lehrbücher waren sowjetische, der Geschichtsunterricht war sowjetisch. Alles Wissen über die Kaukasuskriege des 19. Jahrhunderts, die erste Besetzung Tschetscheniens und die Unterdrückung des Widerstands waren getilgt, die Deportation von 1944 tabu. Wenn die Leute wüssten, was die Tschetschenen anderthalb Jahrhunderte von Russland erdulden mussten, hätten sie dann mehr Empathie?

Estemirova: Es ist ein Verbrechen, dass Russland zu dieser Aufklärung nicht beigetragen hat. Bis heute sind die Archive, auch die zu den Deportationen, nicht vollständig geöffnet, es wurde keine Kommission zur Ermittlung der Wahrheit und der Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit eingesetzt, obwohl dies der erste Schritt sein sollte, um die Katastrophe zu überwinden. Die Völker waren – freiwillig oder unfreiwillig – durch eine gemeinsame Kultur und Sprache verbunden. Die Unwissenheit war weit verbreitet. Nur wenige Menschen bewegten sich in intellektuellen Kreisen und hatten Zugang zu unterdrückter Literatur. Viele Menschen hatten keine Ahnung, was in der Vergangenheit geschehen war. Das gilt auch für meine Mutter.

Auch mein Großvater Hussein war deportiert worden. Er war durch die Hölle gegangen. Aber nie hat er von der Deportation erzählt. Meine Mutter und ihre Geschwister wussten nicht, was er durchgemacht hatte. Ich glaube, dass meine Mutter deshalb in den 1980er Jahren beschloss, Geschichte zu studieren.

Die Europäische Union erkannte 2004 die Deportation der Tschetschenen als Völkermord an. Dies ist sehr wichtig. Hat Russland die Deportationen je als Völkermord anerkannt? Nein, natürlich nicht. Das ist eine politische Frage in Russland, die nicht nur die Tschetschenen betrifft, sondern auch die Inguschen, Balkaren, Deutsche …

Osteuropa: … die Finnen, Koreaner, Dutzende anderer Nationalitäten …

Estemirova: Als ob es nie passiert wäre. Wir sollten vergessen und weitermachen wie ein Schmetterling, der vom einen auf den anderen Tag lebt. Doch auf diesem historischen Unrecht bauen die Konflikte der Zukunft auf: Das ist wie Holz fürs Feuer. In Tschetschenien ging es in Flammen auf. Wir hätten Russlands Selbstverständnis, die gesamte Ideologie ändern müssen. Ich weiß nicht, ob Russland bereit wäre, seine Haltung zu ändern, den Unwillen, die Wahrheit zu sagen und sich für seine Fehler zu entschuldigen. Von Entschädigung gar nicht zu sprechen.

Osteuropa: Ein Ergebnis der Aggression gegen Tschetschenien war die Wiedergeburt des russischen Chauvinismus und Rassismus. Zum Symbol wurde der Neologismus „lico kavkazskoj nacional’nosti“, die „Person kaukasischer Nationalität“. Das ist ein kollektives Bild des gefährlichen, feindlichen Anderen. Es ist eine furchtbare Paradoxie, dass Russland einerseits den Kaukasus fürchtet und eine mentale Grenze zwischen „uns“ und „ihnen“ zieht, andererseits einer politischen Loslösung des Kaukasus nicht zustimmen konnte. Wie ist diese Paradoxie zu erklären?

Estemirova: Mit dem klassischen divide et impera. Das war das Prinzip der Nationalitätenpolitik Stalins. Warum nicht Slawen und Kaukasier oder Slawen und Völker mit einer anderen Augenform spalten, um den Slawen ein Gefühl der Überlegenheit zu geben? Wenn sie sich überlegen fühlen, Privilegien genießen, werden sie keine Freiheit fordern.

Russland schlug diesen Weg der imperialen Gewalt im Jahr 1994 wieder ein. Der zweite Krieg gegen Tschetschenien, der 1999 begann, war noch brutaler. Es war, als ob das Regime seine Schwäche im ersten Krieg kompensieren wollte. Putin, der Mann aus dem KGB, wollte allen zeigen, dass er Ordnung schaffen kann, auf möglichst blutige Weise, und dass der Zweck die Mittel heiligt.

Die Ukraine ist Tschetschenien im großen Maßstab: Einmarsch, Niederschlagung der Proteste, Sturz der Regierung, Einsetzung eines Marionettenregimes. Aber die Invasion verlief nicht nach Plan. Der Einsatz der Kadyrov-Truppen, die zu Propagandazwecken genutzt wurden, sollte eine einschüchternde Wirkung haben: „Seht euch die Tschetschenen an. Wir haben sie unterdrückt, wir haben sie umgebracht, und jetzt bringen sie euch um.“ Der Krieg in der Ukraine sollte die Apotheose der Putinschen Herrschaft werden: „,Kleinrussland‘ ist wieder mit Russland vereint!“ Aber er ist der Anfang vom Ende Putins.

Osteuropa: Seit 1994 sind 30 Jahre vergangen. Das ist genug Zeit zur Aufarbeitung. Doch bis heute gibt es in Russland keine umfassende Geschichte der beiden Kriege, keine substanziellen Forschungen über den Krieg, die Gewalt, die politischen und ideologischen Aspekte, die eine öffentliche Bewertung ermöglichen würden. Es gibt auch nur sehr wenige belletristische Texte.

Estemirova: Das stimmt, die meiste Literatur gibt es auf Englisch. Selbst unter gebildeten Menschen gibt es kaum eine Brücke, die Tschetschenien und Russland verbinden könnte. Der Krieg ist einfach zu schmerzhaft. Tschetschenien ist eine offene Wunde, die notdürftig mit einem Pflaster abgedeckt wurde und aus der nun der Eiter der Kadyrov-Herrschaft quillt. Es ist unangenehm, beängstigend, eklig, es stinkt. Und keiner möchte daran erinnert werden, dass er mitverantwortlich ist für diese Wunde: durch Schweigen, durch Unterstützung. Wir werden erst nach dem Putinismus eine gründliche Reflexion und Analyse erleben.

Osteuropa: Aber es gab die halbliberalen Jahre unter Medvedev. Damals sah es so aus, als würde Putin abtreten und eine neue Zeit der Freiheit und des Pluralismus anbrechen. Aber zu keinem Zeitpunkt forderte die Opposition die Aufarbeitung der Tschetschenienkriege, nie fragte sie nach der Verantwortung, nach historischer Gerechtigkeit. Das gilt auch für Aleksej Naval’nyj. Unter El’cin und Putin beging der Staat die größten Verbrechen seit der Stalin-Ära. Nie wurde mehr Blut vergossen als in Tschetschenien. Trotzdem wichen alle dem Thema aus. Warum ließen alle bereitwillig die Angelegenheit auf sich beruhen?

Estemirova: Als Medvedev Präsident war, also vor den Massenprotesten gegen die Wahlfälschung im Winter 2011 und gegen Putins Rückkehr ins Präsidentenamt im Frühjahr 2012 waren die Leute der Tschetschenienfrage überdrüssig. Das gilt auch für Europa – und das, obwohl mehr Menschen denn je aus Tschetschenien flohen, um sich vor den brutalen Methoden Kadyrovs zu retten. Damals war von europäischen Politiker zu hören: „Oh, Groznyj ist wieder aufgebaut. Warum verlasst ihr also eure Heimat? Alles läuft doch gut, Russland gibt euch sogar Mittel aus dem Haushalt.“ Diese Sicht der Dinge war bequem.

Osteuropa: Funktionierte denn die Fata Morgana „Groznyj mit Wolkenkratzern“?

Estemirova: Ich glaube schon. Es war die Zeit, als das neue Moskau unter Sergej Sobjanin entstand, Parks, Cafés, Shops mit Weltmarken. Und die Tickets nach Europa waren billig. Das hatte für viele Leute Priorität. Sie hatten das Gefühl, dass es hier und da autoritäre Tendenzen gibt, aber damit kann man sich arrangieren. Der Putinismus gab dem angenehmen Leben eine pikante Würze.

Natürlich gab es den Wald von Chimki vor den Toren Moskaus, wo Journalisten und Politiker ermordet wurden, Folterungen durch die Polizei geschahen. Ganz abgesehen vom Horror in Kadyrovs Tschetschenien, von den Folterkellern, den Vermissten … Das war leicht zu ignorieren. Menschenrechtsverletzungen waren ein unangenehmes Thema, das höchstens irgendein Langweiler auf einer Party ansprach: Warum sollte man sich davon die Stimmung verderben lassen?

Osteuropa: Wie kam Kadyrov an die Macht?

Estemirova: Durch Verrat. Wenn man den Widerstand eines Volkes nicht brechen kann, sucht man einen Verräter, setzt ihn an die Spitze eines Gebietes, und dort kann er dann tun und lassen, was er will, solange er den Widerstand unterdrückt und das Gebiet Teil des Landes bleibt. Das war Russlands Herrschaftspraxis seit den Kaukasuskriegen. In Tschetschenien funktionierte diese Praxis lange nicht. Denn Tschetschenien war eine anarchische, zersplitterte, stark dezentralisierte Gesellschaft. Es gab keine einheitliche politische Struktur, keinen Führer, mit dem St. Petersburg oder Moskau sich hätten einigen können.

Aber nach dem ständigen Kampf zwischen David und Goliath fand sich 1999 jemand, der bereit war, sein Volk zu verraten. Das war Achmad Kadyrov, Ramzan Kadyrovs Vater. Er lief zu Russland über und wurde zum Oberhaupt einer „Aristokratie“, die sich nun ihrer Macht erfreute. Der Fall von Ramzan Kadyrov zeigt, was passiert, wenn man einen ungebildeten, gewalttätigen, traumatisierten jungen Mann, der in seinem Leben nichts anderes als Krieg gesehen hat, sein eigenes „Fürstentum“ gibt.

Osteuropa: Wie sieht das Kadyrov-Regime heute aus?

Estemirova: Kadyrov heißt Folter – physische und psychische. Die meisten Tschetschenen sind Geiseln dieses Regimes. Selbst jene, die ausreisen konnten, haben keine Freiheit gewonnen, wenn sie noch Verwandte in Tschetschenien haben. Wenn einer im Ausland etwas sagt, was Kadyrov nicht passt, wie es bei dem im Exil lebenden Blogger Tumso Abdurachmanov oder den Brüdern Jangulbaev der Fall war, dann ist die Familie in Tschetschenien dran!

Ich habe es da einfacher. Ich habe keine Eltern mehr, meine Verwandten leben im Ausland. Zu wem sollen Kadyrovs Schergen gehen? Sollen sie meine Mutter aus ihrem Grab holen?

Dieses Regime ist so unvorstellbar – wie ein Albtraum, aber es ist grausame Realität! Das Schlimmste ist, dass nach all den Jahren des Widerstands, nach all dem Leid, das das tschetschenische Volk ertragen musste, Tschetschenen heute Tschetschenen foltern und Tschetschenen heute Tschetschenen töten. Viele meiner Freunde in Tschetschenien tun so, als wäre Kadyrov kein Tschetschene, sondern ein Aware – nach dem Motto „Du bist ein Tschetschene, also bist du gut. Wenn du Böses tust, kannst du kein Tschetschene sein.“ Aber die Wahrheit lautet: Es gibt viele Kadyrovcy. Und die meisten sind es aus finanziellen Gründen, denn Tschetschenien ist arm. Wir müssen damit leben, dass dein Nachbar dich denunziert hat, sein Sohn ein Kadyrov-Kämpfer ist und er deinen Sohn gefoltert hat … Kadyrov und seine Gefolgsleute sind schuld. Aber hinter ihm steht Russland.

Osteuropa: Ohne Putin hätte Kadyrov keine Zukunft?

Estemirova: Auf keinen Fall. Die Versuche, Tschetschenien als Staat im Staate darzustellen, oder das Gerede, dass Kadyrov mit seiner Armee die Macht im Kreml übernehmen könne, sind haltlos. Kadyrovs Gefolgschaft gründet auf Führerkult und Angst. Sobald sich die politische Lage nur minimal verändert, fällt derjenige, den Kadyrov heute für seinen besten Freund hält, ihm in den Rücken. Dann bricht alles zusammen. Kadyrov hat keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Auf Fotos sieht man vielleicht Paare, die auf der Siegesallee, die jetzt Putin-Allee heißt, spazieren gehen und sich vor der Zentralmoschee „Das Herz Tschetscheniens“ fotografieren lassen. Aber diese Menschen haben 30 Jahre lang unter Krieg und Diktatur gelebt. Die tschetschenische Gesellschaft ist total traumatisiert.

Osteuropa: Was hat es mit der „traditionellen Kultur“ auf sich? Stabilisiert sie das Kadyrov-Regime?

Estemirova: Die tschetschenische Gesellschaft ist eine traditionelle und sehr konservative. Vor der Kadyrov-Periode und vor dem Aufschwung des Islams im arabischen Raum spielte das Gewohnheitsrecht (Adat) die zentrale Rolle. Dieses Regelwerk gab alles vor, von der Beziehung zu Verwandten bis zum Umgang mit Gästen. Die Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen in Tschetschenien ist höchst komplex. Die Gesellschaft wurde durch das gemeinsame Trauma der Deportation geeint. Wenn alle um dich herum, Freund und Feind, dieses Trauma durchgemacht haben, verändert das die Sichtweise auf viele Dinge. Auch der Islam, die Rituale und der persönliche Glaube spielen eine wichtige Rolle. Wahrscheinlich ist es der Glaube, der den Menschen in Tschetschenien jetzt hilft.

Kadyrov manipuliert diese Traditionen geschickt. Die Islamisierung Tschetscheniens begann 2008 mit der Anordnung, dass Frauen im öffentlichen Raum ein Kopftuch tragen müssen. Dagegen hatte sich meine Mutter gewehrt. Grundlegende tschetschenische Traditionen wurden von Kadyrov pervertiert. Er sah zum Beispiel ein Video, in dem zu sehen war, wie ein Vater seiner Tochter Mut zusprach, die heiraten wollte. Das war unüblich, denn der Vater muss am Hochzeitstag von seiner Tochter getrennt sein. Daraufhin bedrohte Kadyrov diesen Vater und zwang ihn, sich öffentlich zu entschuldigen. Und das, obwohl er selbst, als seine Tochter heiratete, sich mit ihr fotografieren ließ und die Fotos in den sozialen Netzwerken viral gingen. Alles ändert sich je nach seiner Laune. Er ist ein absoluter Despot.

Das Gefüge der tschetschenischen Gesellschaft ist zerrissen. Wenn man Videos sieht, in denen sich ältere Männer bei Kadyrov entschuldigen, sich bei ihm einschleimen, er ältere Menschen begrüßt und sie vor ihm aufstehen, dann ist das ein Affront gegen die tschetschenischen Traditionen. Man kann Skepsis gegen manche Traditionen hegen, aber manche sind edel und schön. Und sie sind Ausdruck des Wunsches, Tschetschenien als Nation zu erhalten. Kadyrov mit seiner Willkür und Sprunghaftigkeit zerstört sie. Es wird sehr schwierig, sie wiederherzustellen. Die tschetschenische Kultur verändert sich vor unseren Augen. So stellt Kadyrov seine Frauen zur Schau. Und plötzlich hat jeder in seinem Umfeld eine zweite und eine dritte Frau. Nun ist Polygamie normal und wird sogar gefördert. Das ist grausam. Vor Kadyrov war Polygamie verboten. Menschen in einer solchen Diktatur befinden sich im permanenten Überlebenskampf. Es ist totale Demütigung.

Osteuropa: Russland wird oft so dargestellt: Es gibt das blühende Moskau und die Millionenstädte und es gibt die depressive Provinz. Aus der zieht das Regime seine Soldaten für den Ukrainekrieg. Gilt dieses Schema auch für Tschetschenien?  

Estemirova: Kadyrovs Tschetschenien ist eine Kategorie für sich. Es ist ein besetztes Land. Im Islam gibt es das Konzept der „umma“: die Gesamtheit der Muslime der Welt. Wenn wir über die Idee der tschetschenischen Gesellschaft sprechen, dann handelt es sich um die Gesamtheit der Tschetschenen, die über die ganze Welt verstreut sind und trotzdem versuchen zusammenzubleiben. Sie treffen sich in geschlossenen Räumen. Das ist verständlich. Wenn man alles verloren hat, wenn man gezwungen war zu gehen, will man sich und seiner Kultur treu bleiben.

Aber was ist Tschetschenien unter Kadyrov? Eine glänzende Hülle, unter der sich Leere und Armut befinden. Wer davon nichts weiß, lässt sich von den Wolkenkratzern in Groznyj blenden. Aber der Haushalt wird zu 95 Prozent von Moskau subventioniert. Und das meiste Geld landet in den Taschen von Kadyrov und seinem inneren Kreis. Tschetschenien ist eine nationale Republik, in der die Menschen einfach keine Arbeit haben, in der die Arbeitslosigkeit und die Abgaben mit am höchsten in ganz Russland sind. Selbst ein durchschnittlicher Tschetschene, der nichts mit Politik zu tun hat, muss, wenn er einen Job hat oder ein Geschäft betreibt, den Löwenanteil seiner Einkünfte an die Kadyrov-Stiftung und damit an Kadyrovs Mutter abgeben. Wenn man es nicht macht, kommen Kadyrovs Schergen und treiben die „Steuern“ inoffiziell ein. Es ist eine feudale Gesellschaft, in der jeden Tag neue Regeln erfunden werden. Und diese Regeln erfindet Ramzan Kadyrov.

Osteuropa: Oft ist zu hören, Kadyrov oder Assad in Syrien sind zwar Diktatoren, aber sie verhindern, dass Islamisten die Macht ergreifen. Was sagen Sie dazu?

Estemirova: Das ist zynisch. Welchen Radikalismus oder Islamismus sollen Diktatoren bekämpfen, die permanent Menschenrechte mit Füßen treten, ihr eigenes Volk vernichten und Kriegsverbrechen begehen?

Osteuropa: Wer über Russlands Verbrechen in Tschetschenien spricht, bekommt als Antwort: „Aber die Tschetschenen …“ Und dann kommen die Bombenanschläge in Moskau oder das Drama von Budennovsk, wo ein tschetschenisches Terrorkommando unter Šamil Basaev Hunderte Kinder und Eltern als Geisel nahm …

Estemirova: Šamil Basaev ist weder ein Befreier noch ein antikolonialer Held. Er ist ein Verbrecher, ein Mörder. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die gesamte Familie seines Onkels durch einen russländischen Bombenangriff getötet wurde … In Russland werden die Tschetschenienkriege nach dem Motto „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ dargestellt. Als ob sich Zehn-, ja Hunderttausende Tote Tschetschenen dadurch rechtfertigen ließen, dass es Terroranschläge in Russland gab.

Gewalt erzeugt Gewalt. Kriege zeugen Ungeheuer. Wenn Russland 1994 nicht seinen mörderischen Krieg begonnen hätte, hätte es keine Terroranschläge gegeben. Ich will damit diese Terroranschläge mit keiner Silbe rechtfertigen. Niemand in Tschetschenien rechtfertigt sie. Aber eine schmerzliche Frage bewegt Tschetschenen bis heute: Warum hat niemand mit uns mitgefühlt, als 1999 der Markt von Groznyj und das Entbindungsheim beschossen wurden? Warum gilt die Gewalt der russländischen Armee gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung als normal, während Gewalt militanter Tschetschenen gegen Zivilisten in Russland als Gräueltat empfunden wird?

Wenn ich an das Drama im Moskauer Nord-Ost-Theater im Oktober 2002 denke, fallen mir unter den Geiselnehmern die „schwarzen Witwen“ ein. Das waren Tschetscheninnen, die alles verloren hatten. Ich kann ihre Wut verstehen. Auch ich habe dieses Gefühl gehabt, diese dumme Wut, bei der man einfach alles kaputt machen will. Man hat die Chance zur Rache und denkt: Jetzt soll die ganze Welt sehen, wie verletzt wir sind. Das führt natürlich nur zu noch mehr Bösem. Und ich leide mit den unglücklichen Geiseln. Mit dieser absoluten Barbarei und Grausamkeit kann ich nur sehr schwer leben.

Osteuropa: In Russland gibt es eine Erinnerung an die Tschetschenienkriege. Es gibt Denkmäler für Soldaten, Gedenktafeln an Militärhochschulen. Es wurden Filme gedreht. Aber wird der Opfer der russländischen Aggression, der Toten, der Flüchtlinge, der bei „Säuberungsaktionen“ Traumatisierten gedacht?

Estemirova: Diese Erinnerung ist wie ein wertvolles Flämmchen, das unsere Vorfahren in prähistorischer Zeit hüten mussten, damit es nicht erlischt. Dokumente, Zeugenaussagen, das Archiv des tschetschenischen Zweigs von Memorial, das jetzt im Norwegischen Helsinki-Komitee aufbewahrt wird, enthalten alle Beweise für Kriegsverbrechen … Das sind Samen, die man heute noch nicht säen kann, aber eines Tages, wenn es geht, werden sie sprießen.

Das Interesse an Tschetschenien ist wieder groß. Wer über Russlands Invasion in die Ukraine entsetzt ist und verstehen will, wie es soweit kommen konnte, landet bei den Tschetschenienkriegen. Wer über Dekolonialisierung oder Überwindung des Imperiums nachdenkt, stößt auf den Fall Tschetschenien. Und all die Exil-Tschetschenen, die während des Krieges geboren wurden und keine Erinnerung daran haben, wollen verstehen, was geschehen ist und was geschehen wird.

Osteuropa: Wenn Russland eine demokratische Zukunft haben will, muss es seine historische Verantwortung für Tschetschenien anerkennen. Welche Formen könnte diese annehmen?

Estemirova: Erstens geht es um historische Gerechtigkeit. Russland muss um Entschuldigung bitten, seine Verantwortung für die Vernichtung ganzer Dörfer in den Kaukasuskriegen anerkennen, für den Völkermord an den Tscherkessen, die nahezu ausgerottet wurden, für die Deportationen, für die Kette der Gewalt über Jahrhunderte hinweg. Für mich ist Tschetschenien die größte Tragödie. Aber jede ethnische Gruppe, jede Nation im Kaukasus, hat ihre eigene Tragödie.

Zweitens müssen alle Verbrechen bestraft werden. Verjährung darf es nicht geben. Wegen Kriegsverbrechen wurden nur Sergej Lapin und Jurij Budanov verurteilt, zwei von Hunderttausenden. Die anderen raubten, stahlen, vergewaltigten und mordeten straffrei. In der Ukraine treiben Russlands Soldaten heute wieder ihr Unwesen. Aber die Ukraine fordert ein internationales Tribunal gegen russländische Kriegsverbrecher.

Und dann gibt es noch meine persönliche Geschichte … Die Mörder meiner Mutter wurden nie gefunden. Sie hat sich dafür geopfert, dass in Tschetschenien etwas Gutes entsteht. Die Untersuchung nach ihrer Ermordung war der reine Zynismus … Ich empfinde das als Demütigung. In den Mordfällen Boris Nemcov und Anna Politkovskaja wurde wenigstens jemand gefunden, den man ins Gefängnis stecken konnte. Aber im Falle meiner Mutter hat sich niemand die Mühe gemacht, jemanden zu finden. Offenbar, weil sie Tschetschenin war …

Ich habe viele Gründe, verbittert zu sein. Das Fehlen von Gerechtigkeit löst eine Wut aus, die blind macht. Für mich persönlich würde der Weg der Buße, der neue Weg eines demokratischen Russland damit beginnen, die Mörder meiner Mutter zu finden und sie ins Gefängnis zu bringen. Alle, vor allem Putin und Kadyrov. Sie sind die Hauptverantwortlichen.

Ich bin nicht die Einzige. Ich habe zig Freunde, deren Brüder als Teenager entführt wurden, deren Eltern ermordet wurden. Es gibt Legionen von Waisenkindern und Müttern ohne Söhne. Und wir alle warten auf etwas. Wir geben die Hoffnung nicht auf. Wer ohne Hoffnung ist, der ist gebrochen.

Osteuropa: Und wie stellen Sie sich die Zukunft Tschetscheniens vor?

Estemirova: Ich träume davon, dass Tschetschenien eine Chance zur Selbstbestimmung bekommt, so wie Schottland im Vereinigten Königreich. Wie auch immer die Zukunft Tschetscheniens aussehen wird, ich wünsche mir, dass es kein Blutvergießen mehr gibt. Auf Hass und Blutvergießen lässt sich nichts aufbauen. Die Zukunft Tschetscheniens sollte von den Tschetschenen selbst bestimmt werden. Und nicht von Tschetschenen im Exil wie Tumso Abdurachmanov, Achmad Sakaev oder mir.

Aus dem Russischen von Manfred Sapper, Berlin

 

 

 


[1]   Samaški ist eine Ortschaft im Westen Tschetscheniens, wo im April 1995 russländische Truppen, insbesondere Angehörige der Sondereinsatztruppen des Innenministeriums OMON, Massaker begingen, denen über 300 Zivilisten zum Opfer fielen. In der zentraltschetschenischen Ortschaft Novye Aldy begingen russländische Truppen zu Beginn des Zweiten Tschetschenienkriegs im Februar 2000 ebenfalls Kriegsverbrechen, raubten, vergewaltigten und töteten ca. 80 Zivilisten. – Red.

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